Dramatische Stunden auf dem Hudson River

Das Bild der Passagiere, die sich auf den Tragflächen eines im Eiswasser treibenden Airbus drängen, ist um die Welt gegangen. Der Ablauf der Ereignisse scheint bekannt: Am 15. Januar 2009 startete ein Airbus A320 vom New Yorker Flughafen LaGuardia und kollidierte nach nur 90 Sekunden mit einem Schwarm Wildgänse, sodass beide Triebwerke ausfielen. Flugkapitän Chesley Sullenberger gelang das Husarenstück, das 75 t schwere Segelflugzeug, in das sich sein Airbus von einem Augenblick zum anderen verwandelt hatte, im Hudson River notzulanden. Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder wurden von herbeieilenden Fähren gerettet. Ende gut, alles gut? Für die mehr als 150 Menschen an Bord zogen sich die wenigen Minuten dieser Beinahekatastrophe zu einem endlosen Albtraum dahin. Wie ist es, einen solchen Flugzeug-Crash mitzuerleben?

Nehmen wir beispielsweise den Durchschnittsbürger Bill Zuhowski, der für eine Swimmingpool-Firma auf Long Island arbeitete. Er war nicht häufig in Flugzeugen unterwegs, wollte aber an diesem Tag den 11.30-Uhr-Flug aus dem winterlichen New York ins sonnige Myrtle Beach nehmen, um dort den Geburtstag eines Freundes zu feiern. Kurz vor 7.00 Uhr morgens verließ er Mattituck auf Long Island. Der Schnee hatte die Straßen in eine Blechlawine verwandelt. Als Zuhowski endlich auf dem Flughafen ankam, hatte er seinen Flug nicht etwa verpasst – der Flug war abgesagt worden. Aber der Schnee hatte nachgelassen, und seine Hoffnungen auf ein warmes Wochenende in Myrtle Beach lebten wieder auf. Zuhowski buchte einen der hinteren Sitze auf dem Flug 1549 der US Airways, dessen Startzeit auf den Anzeigetafeln immer noch mit 14.45 Uhr angegeben war, woran erfahrene Mitarbeiter von LaGuardia allerdings nicht mehr glauben konnten.

Um 15.25 Uhr konnte die Maschine endlich starten, aber 89 Sekunden nach dem Abheben wurde das schwere Flugzeug plötzlich erschüttert. Beide Triebwerke fielen aus. Einige der Passagiere bemerkten die unnatürliche Stille aufgrund des fehlenden Turbinengeräuschs, einige sahen sogar Flammen aus den Triebwerken schlagen. Dann füllte sich die Kabine mit einem leichten Rauchschleier und einem Geruch, der alle Insassen erschaudern ließ – einem Geruch nach Kerosin, brennendem Haar und brennendem Fleisch.

Um sich einen Überblick zu verschaffen, ließ Sullenberger das Flugzeug in eine scharfe Linkskurve zurück nach Manhattan einrollen. Dadurch verlor er fast die Hälfte der Höhe, aber er konnte wieder Geschwindigkeit gewinnen und erhielt einen Teil der Kontrolle über den Airbus zurück. Außerdem bekam er einen Eindruck davon, wie weit er mit dem Riesensegelflugzeug noch kommen konnte.

Durch die Wende änderte sich auch die Aussicht für alle Insassen. Diejenigen auf der rechten Seite blickten auf New Jersey und den Fluss, während die auf der linken Seite LaGuardia und Manhattan sahen. Einige konnten sogar einzelne Autos ausmachen – und den Fluss, breit und sehr nah.

Bill Zuhowski war von den Ereignissen überrumpelt worden und hatte sich noch keine rechte Vorstellung von der Situation machen können. Er glaubte immer noch, dass der Pilot das Flugzeug abfangen und den Flug nach Charlotte fortsetzen könnte. Der Gedanke an einen Absturz war ihm noch nicht ernsthaft gekommen. doch dann wurde er von seinem Sitznachbarn abrupt in die Gegenwart geholt. Ein wildfremder Personal-Trainer aus der Bronx umarmte ihn plötzlich und begann wirr vom Sterben zu reden.

Der merkwürdige Vorfall erschütterte Zuhowski, zwang ihn aber auch dazu, sich den Realitäten zu stellen. »Natürlich bekam ich Angst«, berichtet Zuhowski, »aber so voller Furcht und Panik Sie auch sind, es gibt nichts, das Sie tun können. Sie sind auf Ihrem Platz festgenagelt, und das war es.«

Plötzlich schrie jemand: »Wann sagt uns endlich mal einer Bescheid?«

In diesem Augenblick drang Chesley Sullenbergers Stimme zum ersten Mal seit dem Start vor fast vier Minuten in die Kabine.

»Hier spricht der Kapitän«, sagte er, »nehmen Sie Ihre Sicherheitspositionen ein!«

Bill Zuhowski stützte sich ab, aber dabei fragte er sich: Wie stützt man sich gegen den Tod ab? Welchen Unterschied macht es aus, ob mein Kopf oben oder unten ist? Es ist alles vorbei.

Dann ertönte in der Mitte des Flugzeugs eine andere Stimme wie eine Lautsprecherdurchsage. Ein Passagier auf einem Fensterplatz begann laut den Abstand zum Wasser herunterzuzählen: »Fünfzehn Meter ... vierzehn Meter ... dreizehn Meter ...«

Die letzte Zahl, die die Insassen hörten, war die vier. Dann schlug das Heck von Flug 1549 hart auf dem Wasser auf. Rumpf und Nase senkten sich schnell, und das Flugzeug glitt fünf oder sechs Häuserblöcke weiter flussabwärts. Als das linke Triebwerk vom Wasserdruck abgerissen wurde, drehte sich das Flugzeug dramatisch nach links, sodass seine Nase auf den Fährhafen und das Gebäude der New York Times zeigte. Der Aufschlag ereignete sich um 15.30 Uhr und 42 Sekunden, fünf Minuten und neun Sekunden nach dem Start von LaGuardia.

Während der ersten fünf oder sechs Sekunden waren die Passagiere wie erstarrt und von dem Gewirr von Geräuschen und Eindrücken überwältigt. Während dieser kurzen Zeit befürchteten immer noch viele, dass sich das Flugzeug überschlagen würde, und als es den unvorhergesehenen Linksschwenk machte, stützten sie sich gegen das anscheinend unvermeidliche Auseinanderbrechen ab.

Viele waren sehr kurz bewusstlos oder leicht verwirrt, als sie mit den Köpfen gegen die Vordersitze stießen. Andere hatten völlig abgeschaltet, um sich auf den Tod vorzubereiten oder einfach vor der Wirklichkeit abzuschotten. Einige dachten, dass sie schon tot wären und dass die Landung selbst der Augenblick des Todes wäre. Viele beobachteten das ganze Ereignis wie Zuschauer von außen.

Die Gruppe in der ersten Klasse und in den ersten Reihen der Economyklasse konnte die beiden vorderen Ausstiegstüren nutzen, die Personen auf den mittleren Plätzen drängten sich um die vier Notausgänge an den Tragflächen. Die Passagiere in der Economyklasse von Reihe 19 oder 20 heckwärts sollten normalerweise die beiden hinteren Ausgänge verwenden, doch strömte der Hudson schon durch mehrere Lecks im Flugzeugheck herein und machte die hinteren Ausgänge nutzlos. Und genau in diesem Bereich saß Bill Zuhowski. Er sah zu, wie alle anderen an seinem Platz 23E vorbei nach hinten drängten.

Zuhowski spürte schließlich, wie er in die Küche geschoben wurde. Das Wasser reichte ihm schon bis zur Brust. »Das Wasser stieg immer noch«, berichtet er, »ich drehte mich um, aber da war kein Ausweg, und ich dachte noch: Ich werde hier im Heck dieses Flugzeugs ersaufen.«

Zuhowski schrie die Leute aus Leibeskräften an, sich zu beruhigen, und schlängelte sich wieder zurück zur Reihe 26.

»Ich wollte auf die letzte Sitzreihe klettern. Als ich spürte, wie schwer mir dies mit den vollgesogenen Jeans und Schuhen fiel, sagte ich mir, dass ich irgendwann schwimmen müsste und dass ich dabei nicht vom Gewicht der Klamotten nach unten gezogen werden will. Der Eindruck war so überwältigend, dass ich gar nicht daran dachte, wie kalt es war. Ich zog meine Hose, mein Hemd und meine Schuhe aus, und das in einem Zeitraum, der mir wie zwei Sekunden erschien – wie Superman in der Telefonzelle. Dann kletterte ich über die Stühle, von der letzten bis zur ersten Reihe. Ich ging an den Notausgängen über den Tragflächen vorbei – ich weiß nicht, wieso, vielleicht konnte ich sie ohne meine Brille nicht erkennen – und gelangte über den Erste-Klasse-Ausgang auf der linken Seite nach draußen.«

Dort fand er sich auf einem Rettungsfloß wieder und stellte fest: »Diese Leute sind alle trocken!« Die anderen Insassen des Floßes wiederum sahen ihn verwundert an – den jungen Mann in den roten Boxershorts. Er fror erbärmlich.

Die Passagiere sahen ängstlich zu, wie der Pegelstand an der Seite des Rumpfes stieg. Die Fenster der letzten Sitzreihen waren schon nicht mehr sichtbar. Je mehr sich das Flugzeug füllte, umso schneller sank es. Aber keiner der Insassen, auch nicht die Mitglieder der Flugzeugbesatzung, konnte das Rettungsfloß vom Rumpf trennen. Aufgrund der Sicherheitskontrollen in der Verkehrsluftfahrt nach dem 11. September 2001 hatte natürlich keiner der Passagiere auch nur das kleinste Taschenmesser dabei, mit dem dies sehr leicht möglich gewesen wäre.

In der Tür erschien jetzt Sullenberger und löste eine Klettverbindung, aber das Floß blieb immer noch fest an dem Flugzeug. Einer von Zuhowskis Leidensgefährten war so verzweifelt, dass er versuchte, die Nylonleine, die das Floß mit dem Türrahmen verband, durchzubeißen. »Ich rieb mit der Leine über die Türkante, um sie aufzuscheuern. Dann versuchte ich, hineinzubeißen, um sie auf diese Weise abzutrennen. Aber ich schmeckte Kerosin auf dem Seil, weshalb ich wieder davon abließ.«

Doch die Matrosen der sich nähernden Fähren hatten Messer: »Da war ein älterer Herr mit schwarzem Schnurrbart. Wir riefen nach einem Messer, und er holt sein Messer heraus – 15, 20 cm lang. Ich dachte noch: Ich darf das Ding auf keinen Fall in den Hudson fallen lassen.« Als der Matrose das Messer warf, fing Zuhowskis Mitreisende Alyson Bell es mit einer Hand auf, was die gestandenen harten Männer in dem Floß zu Jubelrufen hinriss. Sie reichte das Messer an Sullenberger weiter, der damit das Floß vom Flugzeug losschnitt.

Später fanden die Untersuchungsbeamten in dem Wrack des Airbus zwischen einer Hand voll Laptops, Mänteln und Handtaschen, die in der Kabine zurückgeblieben waren, auch eine Herrenjeans Größe 32/32 in Reihe 20, unweit der Stelle, an der sich Bill Zuhowski bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte.

Zuhowskis Erlebnisse und Eindrücke bilden nur eine von 150 persönlichen Geschichten, die sich an diesem Tag abspielten.

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